Grundlegende Beiträge zur Verkehrstheorie und Pionierarbeit bei der Definition von Protokollen für paketvermittelnde Telekommunikationsnetze
Beiträge zur Verkehrstheorie
Prof. Dr.-Ing. Dr.h.c.mult. Paul Kühn ist unter den lebenden Verkehrstheoretikern die herausragende Persönlichkeit in Europa, die aufgrund ihres wissenschaftlichen Werkes und des unermüdlichen Einsatzes für dieses Gebiet weltweit bekannt ist. Sein Werk reiht ihn ein in die Liste der berühmten Verkehrstheoretiker wie Erlang, Engset, Pollaczek und Khintchine. Diese Namen sind nur deshalb nicht in der Reihe der Eduard Rhein Preisträger enthalten, weil ihre Träger vor Errichtung der Stiftung verstorben sind. Das Kuratorium und der Vorstand sind stolz darauf, einen würdigen Preisträger benennen zu können, der aus Deutschland stammt und hier bis heute tätig gewesen ist. Man hat sich leider daran gewöhnt, daß die besten Forscher dieser Welt überwiegend außerhalb Deutschlands und Europas angetroffen werden.
Was ist Verkehrstheorie und was macht das Fach so bedeutend, dass es den Preisträger stellen darf? Die Informations- und Kommunikationstechnik nutzt aus der Physik bekannte Naturgesetze und erforscht und entwickelt darauf aufbauend technische Systeme. Mit zunehmender Beherrschung der Miniaturisierung signalverarbeitender und speichernder Komponenten haben die Systeme einen unglaublichen Komplexitätsgrad erreicht. Ingenieure berechnen Systeme, die aus solchen Komponenten zusammengesetzt sind anhand von Modellen. Ohne die Berechenbarkeit der Systeme könnten sie nicht realisiert werden. Ein Mobilfunkterminal ist z.B. in allen seinen übertragungstechnischen und verarbeitenden Funktionen mit den Methoden der Systemtheorie genau berechnet, optimiert und dimensioniert worden. Eine Mobilfunkbasisstation, ein koaxial- oder glasfaserbasiertes Übertragungssystem und die Vermittlungsknoten eines Telekommunikationsnetzes sind ähnlich komplexe Gebilde wie das Mobilterminal.
Das Zusammenwirken vieler Übertragungsstrecken und Vermittlungsknoten eines Kommunikationsnetzes, die Beherrschung der in Netzen auftretenden Konkurrenz um Übertragungs- und Vermittlungskapazität und der Schutz gegen Überlastung von Komponenten erfordern ebenfalls die sorgfältige mathematische, modellgestützte Analyse und Optimierung technischer Systeme und Abläufe, ohne die technische Kommunikation nicht in der bekannten Güte möglich wäre. Es handelt sich hier um „Systemtheorie im Großen“, die in der Fachsprache Nachrichten-Verkehrstheorie genannt wird. In dieser Domäne hat Paul Kühn grundlegende Beiträge zur stochastischen Modellierung und Leistungsbewertung von Systemstrukturen und Systembetriebsweisen mit mehrschichtigen Verkehrsmodellen und zur Analyse von Lebensdauer-Prozessen vollständiger bzw. durch Dekomposition zerlegter Systeme geleistet.
Er hat diese Grundlagen nicht nur abstrakt erforscht und etabliert, sondern seine Methoden fast immer auf die Lösung realer Probleme in Kommunikationsnetzen zugeschnitten und dabei entscheidende Beiträge zum Entwurf und der Bewertung von Kommunikations- und Signalisierprotokollen, der Überlastabwehr, der Verkehrsflusssteuerung und der Garantie von Dienstgüte-Parametern von Nachrichtenverkehren geleistet. Nachrichtenverkehre in Kommunikationsnetzen bestehen aus einer Mischung echtzeitbedürftiger und anderer Datenverkehre mit jeweils individuellen Ansprüchen an Durchsatz, Kontinuität des Durchsatzes, Verzögerung, Schwankung der Verzögerung, Verlustrate von Datenblöcken, usw. Die Kunst des Verkehrstheoretikers besteht darin, realitätsnahe Modelle zur Beschreibung der Abläufe der Nachrichtenvermittlung in konkreten Kommunikationsnetzen zu finden und Berechnungsverfahren für das Zusammenspiel der als Zufallsprozesse modellierten Abläufe zu entwickeln.
Entsprechende Modelle beschreiben komplexe Warte- und Bediensysteme und erlauben, die relative Priorisierung der in Netzknoten und auf Übertragungsstrecken konkurrierenden Verkehre und die Korrelation der Verkehrsbelastung eines Netzes entlang seiner Verbindungen zu erfassen und zu berechnen. Paul Kühn hat insbesondere grundlegende Beiträge zur Dekomposition großer Netzprobleme in Teilprobleme für die stationäre und transiente Analyse und zur exakten bzw. approximativen Aggregation der Ergebnisse von Teilsystemen zur Lösung des Gesamtsystems geleistet.
Sein Name ist eng verknüpft mit der Konsolidierung der Methoden der Verkehrstheorie Mitte der 70-iger Jahre in Form von systematischen Vergleichen und der erheblichen Weiterentwicklung bestehender verkehrstheoretischer Modelle mit verschiedensten Belastungsarten, Betriebsmodi und Optimierungszielen. Sein dabei entstandenes Tabellenwerk war über mehr als ein Jahrzehnt für die Anwender der Verkehrstheorie von unschätzbarem Wert, aIs Digitalrechner leistungsschwach und beschränkt zugänglich waren. Das wichtigste Arbeitsgebiet Paul Kühns waren und sind die digitalen, paketvermittelnden Breitbandnetze, insbesondere deren Signalisierprotokolle. Man kann sagen, daß die heute üblichen verkehrstheoretischen Parameter, Modelle und Algorithmen, die bei der Dienstgütesteuerung und Leistungsoptimierung in ATM Netzen (Asynchronous Transfer Mode, ein ITU-T Standard für die Vermittlung von Paketen gleicher Größe) entscheidende Bedeutung haben, ganz erheblich durch Paul Kühn und seine Stuttgarter Arbeitsgruppe geprägt worden sind. Erwähnenswert ist, daß er seine analytisch gewonnenen Resultate zur Verkehrstheorie stets durch ereignisgesteuerte stochastische Systemsimulation validiert hat, was deren Akzeptanz erheblich befördert hat.
Obwohl standardkonforme ATM-Netze vorwiegend nur in Europa eingeführt worden sind, haben sich seine Verfahren auch als uneingeschränkt für die Modellierung und Optimierung der Abläufe im Internet geeignet erwiesen. Daraus bezieht die Preisverleihung für grundlegende Beiträge zu paketvermittelnden Telekommunikationsnetzen, die Echtzeitanwendungen unterstützen ihre Rechtfertigung.
Paul Kühns physische und intellektuelle Energie scheint unbegrenzt groß zu sein. Im nationalen und internationalen Kollegenkreis hat seine über die Jahrzehnte scheinbar unerschöpfliche Energie und Ausdauer bei der Verfolgung und Durchsetzung seiner Ziele ihm immer wieder viel Bewunderung eingetragen.
Er erhält heute diese wohlverdiente Auszeichnung und wir hoffen mit ihm, daß seine Schaffenskraft dem Arbeitsgebiet der Verkehrstheorie und uns noch lange so wie heute erhalten bleiben möge.
Prof. Dr. Bernhard Walke,
RWTH Aachen