Erfindung der heute sogenannten E-Mail
Raymond S. Tomlinson – Wie ein kleines Schriftzeichen das Kommunikationsverhalten der Menschheit veränderte
Erinnern Sie sich noch an die Zeit als riesige Mengen von Mitteilungen, Dokumenten und Berichten sich auf Ihrem Schreibtisch stapelten? Das muss vor mehr als zwanzig Jahren, also vor dem Beginn der Internet-Ära gewesen sein. Noch wesentlich früher, vor nunmehr 40 Jahren, untersuchte und entwickelte Ray Tomlinson, ein recht junger Computerfachmann bei Bolt, Beranek and Newman (BBN), Methoden zur Datenübertragung zwischen den monströsen Rechnern der damaligen Zeit. Der weltweite Austausch umfangreicher Dokumente in wenigen Sekunden war ebenso unvorstellbar wie moderne Arbeitsumgebungen, die man heute als papierloses Büro bezeichnet. Paketvermittlungsverfahren waren dabei, neu in die Datenübertragungstechnik eingeführt zu werden und das vom U.S.-Verteidigungsministerium finanzierte Advanced Research Projects Agency Network (ARPANET) hatte sich gerade zu einem voll funktionsfähigen und schnell wachsenden Computer-Netzwerk entwickelt.
Es wird berichtet, dass die damals als Interface Message Processors (IMP’s) bezeichneten Daten-Router mit 24 Kilobyte (!) erweiterbarem Kernspeicher ausgerüstet waren und, dass eine so genannte 16-channel Direct Multiplex Control (DMC)-Einheit für den direkten Speicherzugriff (Direct Memory Access, DMA) zuständig war. Es war die Zeit, als kurz zuvor bei der 1970 Spring Joint Computer Conference Stephen Carr, Stephen Crocker und Vinton Cerf ihren legendären Beitrag „Host-Host Communication Protocol in the ARPA Network“ veröffentlicht hatten. Die wesentliche Idee von Herrn Tomlinson bestand darin, innerhalb des ARPANET und unter Verwendung des damals auf PDP-10-Plattformen der Firma Digital Equipment Corporation (DEC) verfügbaren TENEX (TEN-EXtended)-Betriebssystems, Textbotschaften zu versenden. Im Jahr 1971 schickte Ray Tomlinson die erste E-Mail von einem TENEXA (BBNA)-Rechner zu einem räumlich benachbarten Rechner gleicher Bauart. Die Computer waren PDP-10-Modelle mit einem 48 Kilo-Worte umfassenden magnetischen Kernspeicher. Jedes dieser Worte hatte ein für heutige Verhältnisse eher exotisch anmutendes 36-bit-Format. Erstaunlich war, dass bereits 1973, also kurz nach den ersten erfolgreichen Versuchen, 75 Prozent des damaligen ARPANET-Datenverkehrs aus E-Mails bestand. Es dauerte allerdings noch einmal zwanzig Jahre, also bis nach der Verfügbarkeit der modernen Internet-Technologie, bis E-Mail-Dienste den wesentlichen Anteil des Datenaustauschs über das Internet ausmachten. Bereits in seiner ursprünglichen Version von 1971 war E-Mail ein asynchrones Medium zur Nachrichtenübertragung.
Es besteht heute Einigkeit darüber, dass Herr Tomlinson einerseits wohl der Erste war, der ein eindeutiges E-Mail-Adressformat definierte, welches durch die noch heute übliche „user@remote“- Struktur charakterisiert ist. Nachweislich war es seine Idee, das kaufmännische Und-Zeichen @ (im Deutschen auch als „Klammeraffe“ bekannt) als Abtrennungssymbol zwischen den Benutzernamen und die Maschinen-Identifikationsbezeichnung einzufügen.
Der zweite wesentliche Beitrag zur technischen Weiterentwicklung hat etwas damit zu tun, auf welche neuartige Weise damals Daten-Files übertragen wurden. Herr Tomlinson schrieb ein Programm zum elektronischen File-Transfer, das er CPYNET nannte, und welches er in das SNDMSG genannte lokale Nachrichtenübertragungssystem integrierte. SNDMSG wurde so zum ersten „intelligenten“ Message Transfer Agent (MTA). Elektronische Nachrichten konnten damit prinzipiell über beliebig große Distanzen innerhalb des Rechnernetzes und in wenigen Sekunden zur Mailbox des Empfängers (Remote User) übertragen und zeitlich asynchron abgerufen werden. Dabei muss selbstverständlich beachtet werden, dass die damals eingesetzten MTA-Systeme nur noch recht entfernt mit den heute weltweit standardisierten File-Transfer-Protokollen (FTP) übereinstimmen.
Gehen wir noch einmal zeitlich zurück, so wäre es absolut unfair, Herrn Tomlinson bereits für die vielen negativen Randerscheinungen der modernen E-Mail-Kommunikation (mit)verantwortlich zu machen. 1971 war noch lange nicht an die uns heute bekannten kriminellen Auswüchse zu denken, wie Spam-Mail-Attacken, Spoofing, Computer-Würmer, Phishing-Attacken oder an die vielseitigen Probleme mit dem Schutz der Privatsphäre im Internet. Wie bereits anfangs erwähnt, sollten wir stattdessen froh sein, dass die Papierberge auf unseren Schreibtischen nahezu verschwunden sind. Dafür stapeln sich nun noch riesigere Mengen an elektronischen Nachrichten auf den Festplatten unserer Rechner. So ändern sich die Zeiten!
Aus Anlass des vierzigsten Geburtstages der ersten E-Mail-Übertragung hat die Kulturjury im Jahr 2011 beschlossen, Herrn Raymond S. Tomlinson den Kulturpreis der Eduard-Rhein-Stiftung zu verleihen.
Prof. Dr.-Ing. Horst Bessai
Universität Siegen